Galerie Tschudi, Zuoz. 21. Dezember 2019 – 21. März 2020.
Absolutely Tschudi ist, um mit den Worten von Richard Long zu sprechen, ein «meandering way» durch die Kunstwelt von Ruedi Tschudi, für die seine Galerie steht. Elsbeth Bisig legt ein Denksystem offen, das assoziative Momente mit den glasklaren Statements der einzelnen Kunstschaffenden verbindet. Alle kennen die Chesa Madalena und ihre grossartigen Räume in jedem Winkel aus ihren Einzelausstellungen und seit Elsbeth und Ruedi die Galerie in Zuoz 2002 eröffneten, ist dieses Gehäuse grossartige Hülle sowohl für die Kunst wie für die Besucherinnen und Besucher, welche dieses auf jeder Ebene grenzenlos offene Haus liebevoll bevölkern.
Das prächtige von Hansjörg Ruch umgebaute Engadiner Haus scheint in seinen architektonischen Qualitäten jene bauliche Basis der Ursprünge der Galerie Tschudi in Glarus zusammenzufassen: die traditionelle Villa der Jahrhundertwende, Ruedis Elternhaus, das er ab 1985 als Galerie nutzte, und der säulenlose Hangar, mit dem er seinerzeit Massstäbe in der internationalen Galeriewelt setzte. Die Kunstwerke scheinen in diesen Räumen ihre perfekten Orte zu finden, oder genauer: Ruedi und Elsbeth haben diesem Ort für die Kunst die perfekten Räume gegeben.
Dies wird nirgends so deutlich wie in den permanent angebrachten Werken, die jedes Mal in einen neuen Dialog mit der wechselnden Präsentation treten. Niele Toronis grundlegende Setzung an der Eingangswand gibt immer den Massstab, so wie es die Räume selbst auch tun. Für diese Ausstellung hat Toroni als Ommagio a Rudi drei neue Werke geschaffen, die den freien Rhythmus seiner Abdrücke des Pinsels No 50 in regelmässigem Abstand von 30 Zentimetern auf historischen Informationsplakaten zeigen, welche die Schweizer Schlangen und Echsen vorstellen. Toronis «empreintes» (frz.: Abdrücke) sind ebenso grundlegende Geste des Malaktes, wie sie in ihrer existentiellen Symbolkraft für das Handeln schlechthin stehen können. Sie bilden eine autonome Schicht und überlagern jene Tiere, zu denen Ruedi Tschudi eine besondere Liebe hegte.
Wir dürfen nun eintreten in seine Bilderwelt, in welcher den Menschen ein intellektueller, den Tieren aber ein gleichwertiger anderer Raum zugeordnet ist, den wir nur bedingt betreten können, etwa in den Mythen und Märchen und natürlich in unserer Liebe zu den Tieren, wie sie sich auch immer ausprägen mag. Man könnte sich Ruedi nicht vorstellen ohne seinen Hang zu den Animalischen, welche uns als Wesen ohne Filter entgegentreten: als schmeichelnde Katze wie als in der Zeit erstarrtes Chamäleon, das auch noch seine Farbe wechseln kann. Und auch dieser Idee, ganz Tschudi, folgen wir nun.
Die Choreographie des Engadiner Hauses ist natürlich auch eine symbolische Form, von der Basis des Cuort und der Stalla über den Suler, die Stüva, die Chadafọ̈ und die Chambras bis zum grosszügigen Heustall, dem Talvo, und der Crapẹnda, dem Estrich, der im obersten Geschoss durchaus auch als Festsaal funktionieren konnte und wo die Früchte der Arbeit lagerten. Das Haus ist immer auch Bild des bäuerlichen Lebenszyklus und so könnte die Ausstellung auch gelesen werden.
Im Vorstall erwartet man ganz natürlich Tiere. Im Falle der grossformatigen Schwarzweissfotografie von Balthasar Burkhard überrascht nun allerdings ein Nashorn, nach rechts gewandt, mit seiner massigen Präsenz. Vor neutralem Hintergrund aufgenommen, erstarrt es in seiner archaischen Form gleichsam zur Skulptur seiner selbst, zum Archetypus. In einem Winkelbild von Martina Klein erscheint die Malerei in einer Choreographie monochromer Farbe, während die Komposition sich aus der Installation im Raum ergibt und damit jene Öffnung der Wahrnehmung zeigt, welche die Künstlerin anstrebt. Auf diese mögliche Paar-Konstellation folgt ein Mudwork auf einem gefundenen Holz mit den eindrücklichen Abdrücken des Zeigefingers von Richard Long, die auch durch ihre schiere Grösse beeindrucken. In der ehemalige Stalla liegen vier neue Steinskulpturen von Julian Charrière, welche aus mit Kernbohrungen dicht durchsetzten Gesteinsbrocken bestehen, wie sie auf den Rücken von Gletschern als Findlinge getragen werden. Sie erinnern gleichzeitig an das wabenförmige Habitat eines Insekts, während die darunterliegenden Bohrkerne den Prozess der Herstellung anschaulich werden lassen und unterbrochen sind von blanken Metallstäben. Die Gewinnung dieser Metalle aus der Erde ist ebenso Thema wie die technischen Prozesse im industriellen Massstab, die dafür notwendig sind. Not All Who Wander Are Lost ist eine jener Tiefenlotungen des Künstlers, die ökologische Fragestellungen und künstlerische Form immer treffsicher zur Deckung bringen.
Eine Etage höher, im Heustall, befindet sich ein neuer Steinkreis von Richard Long aus Gestein der Marmorera, wo das historische Dorf 1954 im Stausee an der Julierstrecke versank, und Steinen aus dem Bett der Rhone. In die ideale Form des Kreises eingesetzt ist ein Kreuz wie in einer Windrose. Die durchschrittene und erlebte Landschaft und ihre Geschichte holt Long in einem schlüssigen Symbolzeichen in den Innenraum. Die Tatsache, dass der Heustall durch die notwendige Durchlüftung immer direkt mit dem Draussen verbunden ist, macht ihn zum perfekten Ort für Richard Long, denn die Schnittstelle zwischen dem Innen und Aussen wird für die Betrachtenden hier besonders eindringlich erfahrbar. Ausserhalb des bäuerlichen Hauses haben wir ja sonst keine Erfahrung mit Innenräumen dieser speziellen Art, auf die auch Callum Innes mit seinen beiden Resonances zu reagieren scheint. Die Bilder mit ihren entfernten Farbschichten verstehen sich als Resonanzräume, welche die Möglichkeiten der Malerei erkunden, wie es der Raum des Talvo in Bezug zum Aussenraum der Landschaft darstellt.
Das Glarnerland und das Engadin sind die beiden Landschaften, in denen Ruedi gelebt und gearbeitet hat, seit er als Jugendlicher im Lyzeum in Zuoz zur Schule ging. In den verdichteten Landschaftsbildern Chlönthal und Bernina von Balthasar Burkhard treten beide Gebiete als anschauliche Archetypen auf, während das Diptychon von Dan Walsh für die freien Farbschichtungen steht, denen seine Aufmerksamkeit gilt und die beiden Gemälde von Martina Klein die Dualität, von der Farbwahrnehmung ausgehend, frei umspielen.
In der Quersuler lässt Not Vital die ikonischen Berge auf seinen neuen Zeichnungen Kopf stehen und in der Küche folgen dann die drei Empreintes von Toroni auf den Schlangenplakaten und Not Vitals Hirschgeweih mit dem Ausspruch aus den englischen Four-letter-words geben einen ganz handfesten Bezug, wie er die existenzielle Beziehung zwischen Mensch und Tier über Jahrtausende prägte. Es ging ganz direkt um das nackte Überleben. So kommt denn auch eine tierische Antwort aus dem Hirschgeweih, denn das Tier lebt ja nicht mehr und hat nur noch als Trophäe eine Funktion. Not Vital gibt ihm symbolisch eine kräftige Stimme zurück.
Harmonischer spannt sich gegenüber in der Stüva eine Beziehung auf zwischen einem weissen Gemälde mit Lampenruss und Titanweiss und einer roten feingliedrigen Collage von Callum Innes. Wir sehen Ruedi Tschudi alle noch vor uns im Qualm auf der Ofenbank sitzend. Ein nachlassendes Gehör schützt ihn vor einer allzu umfassenden Belagerung durch die Gäste, während seine Sympathie für alle strömt und seine sprichwörtliche Gastfreundschaft spürbar wird. Die intensiven Gespräche um die Kunst waren und sind in diesem Raum immer besonders dicht und das spürt man auch in der feinen Grenzlinie der beiden Werke.
Das Wall Painting sowie die vier Walltexts auf bemalten Holzteilen von Hamish Fulton nehmen das Thema des Innen-Aussen nochmals auf und verdichten es zu einer Textarbeit über eine 15-tägige Wanderung in der Umgebung von Samedan vom 11. bis 25. Juli 2000, die direkt auf die Wand gemalt ist und das Auf und Ab der Besucherinnen und Besucher in der Chesa Madalena auch optisch mit der heimischen Landschaft verbindet. Im Raum dahinter sind drei Panoramafotos von Petra Wunderlich, vom Turm des Hauses aufgenommen, und das vierte Foto des Patrizierhauses in Zuoz, mit der im Winter dicht verriegelten Stalltüre. Die zeitlos wirkenden Aufnahmen zielen auf das Unveränderliche hinter den Dingen, während die Skulptur von Carl Andre aus Zink und Kupfer die Veränderung bereits in den Materialien in sich trägt. Voltaglyph 26 besteht aus zwei Reihen mit je 13 abwechselnden Platten aus Kupfer und Zink in der Grösse von 25 x 25 x 1 cm. Mit einem Elektrolyten versehen, also einem Medium, das Strom leitet, würden die Platten ein nach dem italienischen Chemiker Alessandro Volta benanntes galvanisches Element ergeben, also eine Batterie. Die Spannung in den Fotografien von Petra Wunderlich ergibt sich aus einer Distanz, die zwischen dem Zeitpunkt der Aufnahme vom Turmzimmer des Hauses und dem Heute zu besteht schient, denn es fehlen weitgehend die Automobile, jene zur perfekten Datierung so nützlichen Vehikel, die man heute gerne wegdenken würde, wie die poetischen Aufnahmen belegten. Klassische Fotografie gründet auf der Chemie der Silberhalogenide und hatte in seinem Naturell von jeher das Alchemistische. Dies nehmen wir aber erst wacher wahr, seit es die digitale Fotografie gibt.
Das grosse hellgraue Triangle Painting von Alan Charlton ist in seiner für ein Gemälde seltenen Form unvermittelt auch ein Bildzeichen, das nach oben weist. Es spannt sich grossartig in die rautenförmige Wandfläche ein und richtet seine pfeilförmige Gestalt in die Höhe, während die kleineren Triangle Paintings in abgestuften dunklen Grauwerten sich der absoluten Form des gleichschenkligen Dreiecks annähern, das in Leonardo da Vincis berühmter Zeichnung den Menschen in seinen Proportionen in die idealen Formen von Kreis, Quadrat und Dreieck einschliesst.
Der Zusammenhang von künstlerischer Produktion und Rezeption des Kunstwerkes gehört zu den zentralen Anliegen zeitgenössischer Kunstschaffender. Auch Bethan Huws definiert den Inhalt des Kunstwerkes, seine Methode und Ästhetik in ihren Relationen ständig neu. Skizzen zum Filmskript Zone geben einen Einblick in die detaillierte zeichnerische Vorarbeit, die der medialen Produktion vorangeht. Die neuen Werke setzten den sitzenden Frosch ins Zentrum, so wie wir ihn aus dem Märchen des Froschkönigs seit Kindheit uns vorstellen und der nur durch das grasgrüne Plappermaul Kermit aus der amerikanischen Serie The Muppets zweitweise aus der Balance gebracht wurde, der seit 1969 die Kinderzimmer auch in Europa flutete. Bei Bethan Huws sitzt der klassische Plüsch-Frosch auf einer luxuriösen Pelzmütze, wie sie vielleicht beim White Turf in St. Moritz getragen wird, und ist über einen schwarzen gedrechselten Perrückenständer gesetzt: das Märchen von Prinzen, der im Frosch wachgeküsst wird, scheint greifbar nahe. Nur lässt sich die Kunst von Bethan Huws nie über die Anekdote erschliessen, denn sie läuft dieser immer entgegen. Die Inkunabeln des Surrealismus von Meret Oppenheim, die Pelztasse Le déjeuner en fourrure, 1936, und das nachfolgende Eichhörnchen, 1969, mit dem Bierkrug, dessen Griff sie durch den buschigen Schwanz des Nagetiers ersetzte, liegen da schon näher und sind vielleicht die Vorläufer des Denkobjekts von Bethan Huws.
Wenige Schritte weiter begegnen wir dem Frosch als Neonobjekt, seine zwei wechselnden Positionen eine Anspielung auf die sprichwörtliche Pose des Frosches, der auf das vorbeifliegende Insekt wartet. Der französische Autor Jean-Pierre Brisset (1837-1919), dessen Blick auf die Sprache gerade den für Huws’ Werk so bedeutenden Marcel Duchamp (1887-1968) stark beeinflusst hat, stellte fest: «Der Klang der Stimme und die Modulation des Gesangs des Frosches haben bereits etwas Menschliches. Seine Augen, sein Blick ähneln den unseren; und kein Tier besitzt eine körperliche Anmut von der Ferse bis zum Hals, die es so sehr dem menschlichen Körper annähern würde; wenige Menschen, selbst die jungen, sind so elegant.»1 So sieht man das Werk aus einer ganz anderen Perspektive.
Die augenscheinliche Tierwelt bildet sich auch im grossformatigen Holzschnitt von Andrea Büttner ab, in der klassischen Ikonographie des Heiligen Franziskus, der den Vögel predigt, so wie sie Giotto di Bondone um 1295 in der Basilika San Francesco des Stadtheiligen in Assisi erfand. Da ihnen der unbegrenzte Luftraum einzig vorbehalten war und sie jederzeit dorthin entschwinden konnten, gelten sie seit der Antike als Symbol der Freiheit, während die römischen Auguren aus dem Vogelflug die Zukunft weissagten. Andrea Büttner skizziert nun in einem kleineren Blatt die Umkehrung der Heiligenlegende, indem die Tiere dem Heiligen Franziskus predigen. Dafür nun gibt es keine vorgegebene Bildsprache und die Künstlerin stellt uns vor, wie die Haltung zwischen Prediger und Heiligem genau sein könnte bei Pinguin, Hase, Pferd und Hecht. Nur für die Szenerie mit dem Fisch gibt es Vorbilder aus der ebenso mythischen wie poetischen Fischpredigt des Heiligen Franz: Da ihr euch des Wortes Gottes unwürdig zeigt, wende ich mich an die Fische, um eure Ungläubigkeit noch deutlicher zu unterstreichen.
Ein grosser Baum aus Bronze von Su-Mei Tse sowie die Fotografien von Su-Mei und Richard Long nehmen den Dialog mit der Landschaft wieder auf, während die Elemente des Quadrats und des energetischen Materials des Kupfers im Kubus von Dan Walsh erscheinen und sich die Triangle Paintings von Alan Charlton in verdichteten kleineren Formaten fortsetzen.
Die Chorographie endet im obersten Raum mit einem auf HD übertragenen 16mm-Film von rund 24 Minuten Länge von Kimsooja. Chapter V, 2016, gehört zu ihrer Filmarbeit Thread Routes, seit 2010, die in sechs Kapiteln angelegt ist und jeweils in einem anderen Kulturkreis der Welt gefilmt wurde. Aus der fragmentarischen Beobachtung an einem Ort weitet sich das Werk zu einer Einheit der Begegnung unterschiedlicher Orte und Menschen, das eindrücklich die textilen Traditionen in all ihrer Schönheit offenbaren und zugleich deren Verknüpfung mit der Natur, der Architektur und der Agrikultur verbinden. Kimsooja spinnt den textilen Faden der Welt und sagt über sich: Ich bewahre meine Projekte in meinem Körper auf, den ich als Atelier verwende.
Die einzelnen Kunstschaffenden hat Ruedi Tschudi zu verschiedenen Zeiten seines Lebens kennengelernt, auch dies zeigt sich in der Ausstellung mit Werken aus unterschiedlichen Generationen: Von Carl Andre, *1935, und Niele Toroni, *1937, bis zu Julian Charrrière, *1987. Das sind mehr als 50 Jahre Kunstgeschichte, dynamisch verbunden und sie formen einen neuen Weg, lassen vermuten und müssen in bestimmten Aspekten ein Rätsel bleiben, das sich meist erst Jahre später löst. So ist die Ausstellung gedacht und ist mit Gewinn und ganz privat zu erkunden: Absolutely Tschudi.
Roland Wäspe