Diesen Herbst zeigt die Galerie Hauser & Wirth in St.Moritz eine gar sonderbar kluge Show: «Seeing Touch» kuratiert von Giorgia von Albertini.
Das physisches Kunsterlebnis zelebrieren
Nach monatelanger Durststrecke, ist bei vielen Kunst Liebhabern dieses Verlangen, Kunst wieder physisch zu erleben, aktuell besonders akut. Wochen- und Monate nun wurden Kunstreisen, gar alle Galerie Besuche drastisch reduziert; PDFs haben die Emailboxen der Sammler gefüllt, Online Viewing Rooms sind explodiert und hinterhergegeistert, der Frust ist gewachsen, und der Diskurs ist geboren – «wie relevant ist denn wirklich die physische Betrachtung von Kunst versus das Online Erlebnis?». Effizienz versus Magie. Nun bedarf es eine Show, bei der es heisst « Spiel Satz Sieg gegen die Online Viewing Rooms». Eine Show, die spüren lässt, wie die Luft knistert zwischen einem Objekt und dem Betrachter, der von einer magischen Macht angezogen scheint, das Objekt berühren zu wollen, wie es virtuell gar nicht passieren kann.
Ein kluger Domino-Effekt der Reize
Tritt man im Erdgeschoss der Galerie Hauser & Wirth auf der Via Serlas in St.Moritz ein, prangen an der Wand, wie das schlagendste Argument am Anfang einer Argumentation, gleich zwei von Sylvie Fleurys monochromen «Cuddly Paintings».
Foto: (v.r.n.l) Sylvie Fleury, Cuddly Painting White, 2019, Cuddly Painting Green 2017; Not Vital, Model for my House, 2007, Not Vital, Object You Don’t Want to Sleep With, 2003, Not Vital, Pain, 2018.
Ihre Beschaffenheit aus einladend-flauschigem Kunstpelz betört sofort die Sinne. Und sobald der Blick auf Not Vitals «Model for my House» aus flauschiger Watte streift, und dann auf Piero Manzonis «Achrome», das ebenso-flauschig wirkt, entgleisen die Hände fast der Beherrschung, wie in einem verhexendem Streichelzoo von Unberührbaren. Mit dieser proaktiv konstruierten sinnlichen Brille ist es nicht verwunderlich, an Martín Soto Climents Komposition aus Seiden-strumphosen, vorbeizugehen und direkt apelliert zu werden, über die implizierten Körper streichen zu wollen (Martín Soto Climent: «Gossip – Memoria Disuelta»). Ebenfalls zum Berühren und gar zum Küssen verleitet die Skulptur-Lampe von Alina Szapocznikow; sinnliche Lippen aus koloriertem Polyester-Harz.
Einer der offensichtlichste Unterschiede, zwischen dem Online-Kunst-Erlebnis und dem Physischem ist nämlich, bei welchem alle fünf Sinne – Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten – herausgefordert werden können. Und so verlässt man die Ausstellung «Seeing Touch» mit einem seltenen Gefühl und Drang weiter diese Kunst berühren, gar körperlich besitzen zu wollen. Eine kluge Verkaufsstrategie? Alsmal es immer spannend zu beobachten ist, wie Galerien und Kuratoren sich darum bemühen, ihre Sammler mit einer neuen Ausstellung zu beeindrucken und sie emotional zu berühren – wird hier «in diesen besonderen Zeiten», wer hier wen berührt, auf den Kopf gestellt… auf eine sehr poetische Weise, in der wie sonst selten, neuzugespitzte Lüste mit neuen Reizen herausfordert werden.
Wie Giorgia von Albertini bewusst körperliche und psychische Reaktionen im Betrachter hervorrufen möchte
Vor etwa drei Jahren, als sie damals am Center for Curatorial Studies (New York) studierte, und über haptische Wahrnehmung recherchierte, entdeckte Giorgia von Albertini den Text von Helen Molesworths „Duchamp: By Hand Even“, auf den sie ihre jetztige Ausstellung aufbaute. In ihrem bahnbrechenden Essay hat Helen Molesworth die haptischen Qualitäten von Duchamps selbstproduzierten Werken gegenüber derer seiner Readymades untersucht. «Molesworths Forschung war sehr bedeutsam, » so Albertini «und zwar, weil sie nicht nur ein neues Licht auf Duchamp warf, sondern auch eine neue Sichtweise auf die Geschichte der Nachkriegskunst vorschlug.»
Die vorherrschende Interpretation des industriell hergestellten Readymades tendiert normalerweise dazu, sich in einer linearen kunsthistorischen Entwicklung zu entfalten, die mit Pop-Art beginnt, zu den produktiven Errungenschaften von Minimalismus und Konzeptkunst führt, und schließlich in die Pictures Generation und Institutionellen Kritik mündet. «Molesworth schlägt mit ihrem Essay eine andere Sichtweise vor: sie legt die Aufmerksamkeit auf Skulptur, die einen menschlichen oder eben handgemachten Charakter hat, und dadurch körperliche oder psychische Reaktionen im Betrachter hervorruft.» erklärt von Albertini. «Diese These ist Ausgangspunkt meiner Ausstellung, in welcher ich künstlerische Positionen, von den Nachkriegsjahren bis heute, vereine, die sich weniger mit Industrialisierung und Technologie, und mehr mit Affekt und Materialität beschäftigen.»
«Seeing Touch»
Unkonventionelle Materialien, denen man nur bei einer physischen gegenüberstellenden Betrachtung bewusste wird, abstrakte körperliche Formen die instinktive Reaktionen hervorrufen… die Kuratorin veranschaulicht in dieser Ausstellung ihre Meinung, dass Kunst oftmals auf zwei Ebenen gleichzeitig operiert: einer intellektuell-rationalen, und einer emotional-körperlichen: «Manche der KünstlerInnen, wie etwa Piero Manzoni, Dieter Roth, Pipilotti Rist oder Phyllida Barlow beschäftigen sich mit der Verwendung unkonventioneller Materialien, welche oft die Grenze zwischen Objekt, Skulptur und Gemälde verschwimmen lassen. Dies finde ich äusserst interessant, weil es nicht nur unsere Wahrnehmung herausfordert, sondern auch unseren Habitus alles Kategorisieren zu wollen. Andere KünstlerInnen in der Ausstellung, wie etwa Alina Szapocznikow, Eva Hesse, oder Louise Bourgeois, setzen auf abstrakte körperliche Formen, welche durch ihren direkten Körperbezug instinktive Reaktionen in uns hervorrufen.» Die jüngsten Positionen, etwa von Sylvie Fleury, Not Vital, Anna Maria Maiolino, oder Martín Soto Climent, wollen sich gar nicht avant-gardistisch und spielen gekonnt humoristisch mit der Kunstgeschichte, wie Soto Climentes erotisierende Seidenstrümpfe oder Fleurys «Cuddly Paintings»: Ein Weisses, ein Grünes – sie flüstern humorvoll eine subtile Kritik in den Raum, an hochgelobte männliche Künstler, die sich einen Namen mit ihren monochromen Quadraten machten. Und doch fordern diese Werke mit ihren Reizen am aller direktesten den Betrachter auf, was er sieht, berühren zu wollen. Seeing Touch.